372.

Jesu Kreuzestod

Warum hüllst du in düstere Nebelschleier
Dein strahlenhelles Angesicht?
Warum verlischt dein segenreiches Feuer,
O holdes, mildes Sonnenlicht?
Warum liegst du,
natur, in trüber Trauer?
Ihr Lüfte! sagt, was weht ihr bangen Schauer?
Sagt, naht sich denn das Weltgericht?
Nein! - dort am Richtplatz schwarzer Missetäter,
Dort auf der grausen Schädelstadt,
Die Mörder nur, und Räuber und Verräter
Bestraft für ihre Freveltat,
dort an des Kreuzes Qualenstamme duldet
Gottes einz'ger Sohn, der nichts verschuldet, Der nie, der nie gesündigt hat.
Er duldet, um uns Sünder zu erretten, Zu retten aus der Hölle macht,
Zu reißen aus der Sünde Sklavenketten
Und aus des Todes öder Nacht.
Mit festem Mut, mit Liebevollem Herzen, Erduldet er die fürchterlichsten Schmerzen, Die je Unmenschlichkeit erdacht.
Ach! wie er noch am harten Kreuzestamme
Den Freund zu trösten sich bemüht,
Wenngleich des Schmerzens qualvollste Flamme
Den ganzen Körper ihm durchglüht!
Er muss bis in die neunte Stunde fühlen,
Wie Nägel ihm die Glieder wild durchwühlen, Wie nach und nach sein Blut entflieht.
"Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verlassen!"
So ruft aus ihm des Schmerzens Pein;
Doch bald vermag er sich wieder zu fassen,
Sein Glaube heißt ihn ruhig zu sein;
"Es ist vollbracht", so ruft er, "Ich empfehle mich in deine Hand, o Vater! Meine Seele."
Er neigt sein Haupt und schlummert ein.
Es ist vollbracht! Der Hölle schwarze Heere
Wehklagen aus der tiefen Kluft;
Der Engel Chor lobsingt, des Retters Ehre
Durchschallet Himmel, Erd' und Luft.
Der Erde Grund erbebt, die Berge zittern,
des Tempels Vorhang reißt, und Felsen splittern,
Und Tode schwinden aus der Gruft.
Es ist vollbracht! - O freut euch, ihr Sünder!
Das Werk der Sühnung ist vollbracht!
Es ist vollbracht! Gott nimmt als Kinder
Euch wieder an; erwachet, erwachet
Aus eu´rem Sündenschlummer, und erhebet
Den Retter, der für euch am Kreuz geschwebt,
Durch Lieb' und Folgsamkeit! - Erwachet!


Ludwig Uhland